Der Schmerz der Passivität ist schleichend und dumpf. Aber es ist ein Schmerz, der schlimmer ist als der, durch den wir gehen, wenn wir uns zuweilen für unsere bewussten Handlungen überwinden müssen.
Passivität kann viele Ursachen haben, kann eine Art Schockstarre sein, die durch eine Erschütterung unserer Welt eintritt. Aber viel zu oft ist sie Umstand eines unbewussten Lebens. Unbewusstheit ist sanft und schleichend, setzt sich nicht auseinander, fliesst in den süssen Schleifen des immerzu Gleichen, kämpft nicht, ringt nicht, tut nichts und lässt alles auf sich zu kommen. Sie setzt sich auf die Parkbank, seufzt und sagt dann: “Tja, so ist das Leben.” Sie ist das Gegenteil von Nikes´”Just do it.”
Aber schliesslich lullt sie uns ein und macht uns schwächer. Wie ein Muskel, der sich zurückbildet, wenn man ihn nicht benutzt, führt Passivität dazu, schliesslich nur immer noch lethargischer zu werden. Sie verstärkt sich mit der Zeit, weil sich unsere Fähigkeiten und Gaben mit der Zeit zurückbilden, wenn wir sie nicht einsetzen. So wie ein nicht gelebtes Talent keine Ergebnisse zustande bringt und gute Anlagen verkümmern, wenn sie nicht gefördert und ausgebildet werden, so verkümmern wir, wenn wir nicht aktiv, handlungsorientiert und bewusst geführt leben.
Passivität gleicht einem Zustand des Dahindriftens, von äusseren und inneren, plötzlichen und zufälligen Impulsen nicht angetrieben, sondern nur beiläufig und richtungslos umhergeschubst.
Dem können wir eine konzentrierte Bewusstheit entgegen setzen. Die aktive Auseinandersetzung mit unserer Fähigkeit, zu denken und bewusst wahrzunehmen und zu empfinden, kann dem Dahinschwinden im Sumpf einer dumpfen Taubheit im Schlamm des Gemeinen entgegen wirken.
Auch unser Denkapparat funktioniert wie ein Muskel, der sich zurückbildet, wenn man ihn nicht benutzt. Dazu gibt es viele hübsche Bilder: Stellen Sie sich vor, Sie leben in einer schmutzigen kleinen Einzimmerwohnung, die Sie nie verlassen. Fakt ist aber, dass Sie in Wahrheit in einem Wolkenkratzer leben, dessen oberstes Stockwerk einen atemberaubenden Blick auf wundervolle Landschaften bietet. Unbewusstheit stirbt und hat das alles nie erfahren. Oder nehmen wir mal an, Sie kaufen sich einen kleinen VW Polo. Sie hätten auch einen Bentley haben können. Unbewusstheit stirbt und hat ihn nie gefahren.
Unbewusstheit ist ein Versäumnis des Lebens in der Zeit. Sie ist ganz ungeheuer unverantwortlich. Und doch glauben die meisten Menschen, dass man sie sich erlauben und leisten darf. Und das nur, weil sie am billigsten zu haben ist. Und das ist sie wirklich: nämlich ganz furchtbar billig. Man muss nichts für Sie tun. Und doch zahlt man einen entsetzlich hohen Preis für sie. Nämlich den, keinesfalls behaupten zu können, man habe gelebt, wenn es ans Sterben geht. Ja, schlimmer noch: Man war schon tot, bevor es ans Sterben ging. Niemand wird Bravo rufen, nur weil wir hier mal zufällig vorbei gekommen sind. Vor allem aber versagen wir uns selbst die Anerkennung und die Erfahrung dessen, was wir sein können. „Es hätte gewessen sein können.“ Das ist Konjunktiv im Plusquamperfekt, wenn ich nicht irre, und es hört sich nicht nur grauslig an. Es ist es auch.
Gegen das süsse, schleichende Gift der Passivität gibt wie bereits erwähnt ein Gegengift: Bewusstheit. Ein bewusst geführtes Leben ringt um Orientierung, setzt sich Ziele, handelt nach ihnen, erzielt Ergebnisse. Ein bewusst geführtes Leben fühlt aber auch aktiver und nimmt insgesamt ganz anders wahr.
Man kann ein Workoholic sein und sein Leben genau so wie es abläuft lieben, oder ein Workoholic sein und am Ende einer hingehechelnden Mammuttour mit Vollgas gegen die Wand fahren und den totalen Burnout erleiden. Wo liegt hier der Unterschied? Ganz einfach darin, dass ein bewusster Mensch sich für ein Leben mit Vollgas eben auch ganz klar für sein Tun entschieden hat, und liebt, was er tut. Wer sich nicht klar entschieden hat, deckelt mit seiner Hyperaktivität nur ungelöste Fragen, ungelebte Träume und Antriebe ab. Was er tut, erfüllt ihn nicht. Ja, er hat eigentlich nie darüber nachgedacht, was er da tut, und ob er das eigentlich auch wirklich will. Er tut es halt, damit das Essen auf den Tisch kommt und gut ist´s. Dieser Mensch wird irgendwann vielleicht aufwachen und so etwas ähnliches denken, wie: „Das war doch gar nicht ich. Das war doch gar nicht mein ganz eigenes Leben, das ich da gelebt habe.“ Und doch war es das. Manche Einsichten tun ganz entsetzlich weh. Aber besser doch, man hat sie. Und je früher, desto besser.
Wenn die Wurzel gesund ist, ist der Baum gesund und kann wachsen und alt werden. Wenn die Wurzel krank ist, hilft alles nichts. Hier und da ein hübsches Blatt, aber schon bald rafft das erste schlechte Wetter alles dahin. Bewusstheit ist das aktive Nähren dieser Wurzel.
Nochmal: Bewusstheit setzt sich auseinander. Wir werden nicht immer klar sehen. Aber wir können und darum bemühen. Und mit der Zeit wird es heller. Und klarer. Bewusstheit ringt um ein „Ich weiss, was ich will“ und bemüht sich um einen Menschen, der seine Bestimmung sucht. Bewusstheit ist das Ringen um diese Bestimmung, und es ist das Leben dieser Bestimmung. Bewusstheit hört nicht auf zu suchen, wenn es schwierig wird. Und wenn Sie den Weg klar vor Augen sieht, weicht sie vor Hindernissen nicht zurück. Bewusstheit würdigt das Geschenk des Lebens vor allem durch eine grosse Präsenz. Sie ist nicht immer hell und klar. Der Blick mag sich zuweilen mal trüben. Aber immer ist sie wach.
Dieses Aufgewecksein ist das schönste Geschenk, das wir uns machen können. Es ist die Fackel, die uns durch jede Dunkelheit trägt, aus jedem Tunnel führt und ins schönste Licht bringt. Es lässt uns Staunen, gewährt wirklich tiefe Freunde, schenkt konzentrierte Ruhe, erkennt Schönheit, wenn Sie uns begegnet, lässt uns aus der klaren Tiefe sehen und kraftvoll leben. Es gibt nichts Besseres als wach zu sein, während wir leben.
Have a great day…and a good life!