Seneca sagt sinngemäss: “Bei der Zeit hat Geiz die einzige Möglichkeit, in ehrbarer Form aufzutreten.” Wir geben unsere Zeit weg, als wäre sie nichts. Wir gehen leichtfertig mit ihr um, weil sie flüchtig ist. Sie ist eine leise Sprinterin. Und wir fangen sie für einen Moment ein, wenn wir uns Rechenschaft darüber ablegen, wie wir sie verbringen, und zwar schriftlich. Die meisten Menschen tun das nicht, denn die Wahrheit ist oft nur allzu ernüchternd.
Ohne jeden Zweifel: Die Zeit ist eine Sprinterin. Immer. Und das, während wir meistens glauben, wir laufen Marathon. Hinzu kommt, dass es uns bei diesem Sprint so geht wie dem Marathonläufer. Die Energie wird zum Ende hin weniger. Durch Zufuhr von Energiedrinks und Snacks können wir den Energieabfall verzögern, aber am Ende sind wir ausgelaugt und “haben fertig”. Wir laufen aber meist in dem Glauben weiter, die Energie bleibe gleich, während sie ständig abnimmt. Sprich: wir machen uns etwas vor.
Wie aber macht man das? Wie kommt man in der Zeit an? Wie behandelt man sie nicht verschwenderisch? Wie fängt man sie ein? Die Antwort: In der orientierten Momentaufnahme. Und indem wir ein Gefühl für unsere Lebensspanne entwickeln und uns eingestehen, dass wir nicht ewig leben werden. Zwischen dem Wissen, einmal sterben zu müssen, und dem Sich-bewusst-Machen, dass die eigene Existenz in nicht allzu weiter Zukunft, selbst wenn man 100 Jahre oder älter wird, enden wird, liegt ein himmelweiter Unterschied.
Und die orientierte Momentaufnahme? Was ist das denn? Das bedeutet, dass man Zeit geniesst, indem man sich ihrer bewusst ist. Ich kann einen Kaffee am Meer, auf dem Berg, oder einfach in meinem Büro geniessen, indem ich mich bewusst einklinke. Und doch haben wir es hier auch wieder mit einem Paradoxon zu tun, das Augustinus schildert, indem er zur Frage “Was ist Zeit?” sinngemäss antwortet: “Wenn mich niemand danach fragt, weiss ich es. Muss ich es aber beantworten, dann kann ich es nicht.” Insofern zerstört man die Gegenwart, indem man sich ihrer bewusst wird. Der Widerspruch löst sich ziemlich schnell auf, wenn wir an unser eigenes Erleben denken. Ich kann mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Meer sitzen und staunend so etwas denken wie: “Wow, ist das nicht ein perfekter Moment?” Und ich kann mich im Schauen über das Meer verlieren und den Augenblick wortlos und ohne inneres Affengeschnatter in mich aufnehmen.
Es geht hin und her. Mal denke ich, mal nehme ich den Augenblick einfach in mich auf. In beiden Fällen kann ich bestens in der Gegenwart ankommen. Interessant ist, dass wir bei dem Versuch, die Gegenwart einzufangen, sie gerade deshalb verpassen. Wer den Sonnenuntergang mit dem Smartphone einfängt, der verliert die Feierlichkeit des Augenblicks für den Moment. Der Versuch, die Zeit einzufangen, hat immer etwas Lächerliches. Und ist doch allzu nachvollziehbar. Im Grunde wollen wir alle, dass wir und unser Erleben überdauern, dass da ein tieferer Sinn, etwas Bleibendes in unserem Sein ist.
Wir spielen ein Spiel, das wir nicht gewinnen können. Und können nicht anders, als es immerzu zu spielen. Dem Vergehen ist nichts entgegenzusetzen als ein gut gelebtes Sein.
Damit das gelingt, muss ich orientiert sein. Ich sitze also am Meer und beobachte den Sonnenuntergang. Dabei geht es hin und her. In Momenten bin ich ganz, dann wieder denke ich vielleicht etwas wie: Träume ich das alles nur?
Hinter all dem liegt, wie ein Hintergrund, auf den ich meine Erlebnisse und Gedanken male, mein mentales und praktisches Arrangement. Das heisst, ich habe mein Leben praktisch organisiert, und ich bin auch mental organisiert. Ich habe mich in meinem Denken und Fühlen, und das mag wohl das Individuellste sein, was wir für uns leisten, so organisiert, dass ich jetzt, in diesem Moment, aus einer gewissen Ruhe heraus den Sonnenuntergang geniesen kann. Und zudem habe ich ganz pragmatisch einen Weg gefunden, an die Küste zu kommen und real die Situation hergestellt, die ich jetzt erlebe. Darüber hinaus habe ich mein Leben so aufgebaut, dass es mir nicht einfach zusammenbricht. Ich agiere aus einer realen und auch gefühlten Stabilität heraus, wobei ich mir sehr wohl bewusst bin, dass mir diese jederzeit wie Sand zwischen den Fingern zerrinnen und zusammenbrechen kann. Zumindest aber habe ich die Wahrscheinlichkeit dieses Zusammenbruchs durch mein Handeln etwas unwahrscheinlicher werden lassen. Für den Moment ist es gut.
Ich bin ein Tänzer auf einem Seil, und ich weiss, dass ich nur für eine bestimmte Zeit tanzen werde. Ich setze meine Füsse bewusst und manchmal gelingt mir ein kurzer Blick in die zauberhafte Weite des Seins. Die Sonne fällt ins Meer und ich bin dabei. Das Blinzeln des Lichts ist von unbeschreiblichem Zauber. Die Liebe zu einem anderen Menschen, aber auch zum Leben selbst, öffnet uns für das Tiefste. Ich kann gar nicht anders als unendlich dankbar zu sein. Ich öffne mich hinein in die Weite all dessen, was ich nicht verstehe. In diesem Öffnen, in der grössten Verletztlichkeit, fliege ich und bin getragen von der grossen unbekannten und doch bekannten Kraft. Denn ich weiss, ich bin ein Teil von Ihr. In diesem Getragensein ist es gut. Es ist ein Urvertrauen, in dem ich die Flügel breite. Ich gewinne alles, während ich mich in den Abgrund stürze. Hinter meiner Angst trägt mich etwas, das viel grösser ist als ich. Adler fliegen alleine, und manchmal auch zu zweit.