“Was scheren mich Neuigkeiten! Wie viel wichtiger ist es das zu kennen, was nie alt war.”
Henry David Thoreau
“Mami, darf ich mein Kacka Scheisse nennen?”
“Aber natürlich mein Schatz. Wenn etwas Scheisse ist, dann darfst Du es auch so nennen. Wichtig ist nur, dass Du die Wahrheit sagst. Über alles andere kann man dann ja reden.”
“Mami?”
“Ja mein Schatz?”
“Ich glaube, die Welt ist ganz schön kacka.”
Es war eine jener grossen Momente, die nur alle paar Jahre mal ihr Stelldichein haben. Und wie so oft, geschah es aus wahrlich heiterem Himmel an einem freundlichen Sommertag.
Ich trat in “mein” Schuhgeschäft mit Schusterei, um ein Paar reparierte Schuhe für mich abzuholen. Und fragte dann spontan, ob sie auch vorne geschlossene Birkenstockschuhe in meiner Grösse hätten.
Wenige Minuten später kam die Frau dann aus dem Keller und hatte sie in der Hand. Und dann geschah das wiederkehrende Wunder: Ich schlupfte hinein und fühlte. Ich fühlte das angenehm temperierte, weiche, aber nicht zu weiche Korkfussbett unter mir, das feste, solide Leder darüber, ich fühlte Beständigkeit, ein “So-war-es-immer-so-wird-es-immer-sein” als Fundamentalregel meines Schrittes, der sich darin gefällt, mit mir zu vergehen. Im Dahinschwinden fand ich das Zeitlose wieder, wie ein Geschenk, das mich daran erinnert, was wirklich zählt.
Grossmutter sagte ja immer: “Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem andern zu.” Und “Wer zweimal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.” Würde sich die Welt an diese Fundamentalregeln halten, wir lebten wohl alle im Paradies.
In einer Welt, die den Elefanten im Raum nicht mehr sieht, der noch dazu als Lügenbaron daher kommt, wäre es eine Erlösung, eine lang vermisste Freundin, nämlich die Wahrheit wieder zu finden.
Es hätte wohl in etwa die gleiche Wirkung wie der Heilige Geist, der auf die Menschen niederkam, und sie konnten sich in allen Sprachen verstehen.
Es wäre doch wahrlich ein Geschenk, wenn man einmal wieder die Strasse entlang gehen könnte und sich mit Bekannten und Freunden wieder in EINER Sprache unterhalten könnte, in der die Logik und das allgemein Selbstverständliche noch nicht abgeschafft sind.
Sich Fehler einzugestehen wäre erlaubt. Neuigkeiten würden offen diskutiert, ohne dass alles was uns bis hierher einen guten Dienst erwiesen hat, gleich auf die Müllkippe käme.
Wir würden an einem Strang ziehen, versuchen gemeinsam Lösungen zu finden. Dabei stünden wir im Licht einer Wahrheit, die die Realität anschaut mit all ihren Ecken und Kanten.
Wir hätten Respekt vor Bildung und Sensibilität, vor allem, was sich über die Jahre bewährt hat, vor der Handschlagqualität, die ihr Wort hält, ohne dabei die Härten der Existenz zu vertuschen oder unter den Teppich zu kehren, die den Begriff Ehre sowie überhaupt Tugenden noch würdigt, und der es nicht gleichgültig ist, vor sich selbst und anderen in Ungnade zu fallen.
Wir hätten Einsicht in einen Realitätssinn, der sich mit jedem an einen Tisch setzt, ganz gleich, welcher Gesinnung und Couleur, nicht aus Gleichgültigkeit oder Unwissen, sondern aus der Anerkennung der Gegebenheiten, mit denen es gerade umzugehen gilt, und die man sich nicht immer aussuchen kann.
Kurz, wir hätten dem Leben wieder ein Ingredienz hinzugefügt, das es wie die Luft zum Atmen braucht, nämlich einen Schuss Weisheit und Menschlichkeit, die eben so heisst, weil sie uns im Tiefsten auch ausmacht und ein Teil von uns ist im Angesicht aller Unterschiede und der Abgründe, die sich in allem und für jeden immer wieder auftun – ja, im Angesicht der Hölle als Option.
Und wenn sich jemand dann doch seine Eier abschneiden will, weil er sich ohne besser fühlt? Na, dann soll er das meinetwegen tun. Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden. Ich werde ihn oder sie weiter würdigen und behandeln, wie es sich gehört. Aber ich werde sie oder ihn nicht verwirren, indem ich eine extra Toilette baue.
Und ich werde es nicht an die grosse Glocke hängen und weiter Wesentliches von Unwesentlichem scheiden. Und wesentlich ist nur, jedes menschliche Wesen sowie alle Lebewesen unseres Planeten weiterhin zu würdigen und anzuerkennen. Abräumen kann jeder. Und eine Abrissbirne ist ein grobes Werkzeug. Bei Kerzenlicht Tee zu trinken, auf dem Rücken zu liegen und in die Sterne zu schauen ist da schon weitaus schwieriger. Nicht jeder ist der zarten Berührung mehr fähig, wenige halten ihr noch stand.
Wir kommen aber aus einer Welt, die sanft, hell und licht ist, vibrierende Energie, sichtbar und fühlbar. Das Grobe ist nur so lange am Werk, wie wir uns für das Feinere nicht aufschliessen.
Das Tor zum Guten – im Groben wie im Feinstofflichen – führt aber immer durch das Nadelöhr der Wahrheit. Gemeint ist die unmittelbare Wahrheit des Offensichtlichen sowie die Wahrheit, über die sich offen diskutieren lässt.
Es muss über dreissig Jahre her sein, dass ich mir zuletzt Birkenstockschuhe gekauft habe. Ich werde meine alten ausmustern, die inzwischen ein signifikantes Loch am Zehballen haben. Ich werde sie loslassen und dankbar dafür sein, dass sie mir so lange einen guten Dienst erwiesen und mich getragen haben.
Mit Birkenstocks war ich als Teenager im Winter mit Bundeswehrsocken und Neonhosen zur Schule gegangen. Sie waren Teil meines Widerstandes gegen das Establishment.
Heute weiss ich, dass das Establishment vergeht, so wie ich auch. Ich gehe meinen eigenen Schritt in dem Wissen, dass ich morgen bereits nicht mehr hier sein werde. Wir sind doch nichts als ein Hauch.
Dabei würdige ich das Offensichtliche: das zeitlos Wesentliche – dass nämlich sauberes Wasser wesentlicher als die neuesten Gadgets ist, dass die meisten Dinge besser nicht getan würden, wenn man sich die Mühe machte, sie weitestmöglich zu ende zu denken, und dass mir keine Menschenseele das Gefühl der Verbundenheit geben wird, wenn ich es nicht selbst schaffe, mit mir in Ruhe länger in einem Raum zu sein.
So sitze ich in meinem Augenblick. Mozarts erstes Pianokonzert klingt an und ist von der Unbeschwertheit eines fröhlich spielenden Kindes, das sich nicht um seine Genialität schert.
Es ist ein Geschenk, das Zauberhafte in Zeiten der Verwirrung noch fühlen zu können. Nenne es Seele, das Mysterium des Seins, die grosse Verbundenheit, die Selbstverständlichkeit des Wunders unserer Existenz, das in allem webt, und das wir nur deshalb oft nicht sehen, weil es zu offensichtlich, zu nah ist.
Ich will mich ganz raushalten und ganz einmischen, wie man das eben so macht, wenn man im Paradoxon des Lebens unterwegs ist.
Unter mir fühle ich die Sicherheit der Schuhe, die mich tragen. Aber ich fühle auch die Brüchigkeit des Bodens, über den ich gehe – nicht direkt. Es ist mehr das Wissen um die Möglichkeit eines Erdbebens, um eine Erschütterung, die alle mir bekannten Fundamente ins Wanken bringen und niederreissen kann. Kurz: Ich weiss, dass ich auf auf Porzellan tanze.
Welche Wahl habe ich? Ich kann mich für die Bewegung hin zum Guten entscheiden. Ich kann in meiner Welt den Unterschied zu einer liebenden Offenheit machen, die sich um Integrität bemüht, und der es darum geht, das Chaos in der Welt in einer Beständigkeit zu verringern, auf die man sich verlassen kann. Ich kann mich verwenden, indem ich guten Mutes bin, mehr Licht als Schatten.
Mein Schuster sitzt seit Jahrzehnten auf einem kleinen Hocker am Fenster und zieht seine Leisten. Es ist eine gutmütige Beständigkeit. Mehr davon, bitte. Kaffee, ja bitte. Nespresso hat das Rennen gegen die alte Italienische Mokka noch nicht gemacht. Zugegeben, auch Apollo war eine Kapsel und ist weit rumgekommen. Nun gut, wir werden sehen.
Lasst uns das neue Begutachten wie der Hirsch, der mit zur Klaviermusik lauscht, während ich durch den Schweizer Naturpark fahre, und der dann wieder im Dickicht des Waldes verschwindet, wie der Fuchs, der mir am Feld kurz neugierig in die Augen schaut, und der sich ein wenig vertraut macht. Wir brauchen alle ein bisschen Abstand und Zeit, und die Bereitschaft, uns gegenseitig wirklich mal anzuschauen – unvoreingenommen, ohne Vergangenheiten. Nur so werden aus Unbekannten Bekannte und zuweilen sogar Freunde.
Die Wahrheit ist nicht immer kacka und gar nicht so schlecht, wenn man sich wirklich um sie bemüht. Sie ist tatsächlich das Beste, was einem passieren kann. Sie ist immer der Ausgangspunkt des möglichen Guten. Sie ist ein Anfang. Wenn man am Ende ist, dann braucht man einen Anfang. Wie jeder Tag zu einem Ende kommt und ein neuer anfängt. Es ist der ewige Kreislauf. Alles beginnt.
Have a great day…and a good life!